Psychische Gesundheit unter Quarantäne
Textart
Feature
Abgabe
Mai 2020
Erhaltene Note
5.5
Dunkel. Still. Ihr Zimmer gleicht einer Höhle. Die Storen sind unten, die
anthrazitfarbenen Vorhänge zugezogen. Und auch ausserhalb der Höhle scheint die Sonne nicht – so zumindest fühlt es Lara. Ein «Ich kann nicht mehr» kreist ununterbrochen in ihrem Kopf. Ihre eigene Stimme aber hat sie selbst lange nicht mehr gehört. Sie wurde verstummt vom «schwarzen Loch». «Das schwarze Loch» – so nennt Lara ihre Depression. Eine dunkle Krankheit mit ungeheurer Macht. Durch die aktuelle Krisensituation ist deren Macht gar grösser geworden und bestimmt Laras Leben vollumfänglich.
Lockdown und Kontaktverbot als Multiplikator der psychischen Krankheit: So wie Lara ergeht es vielen Menschen zurzeit. Laut dem schweizerischen Gesundheitsobservatorium leidet rund 17% der Schweizer Bevölkerung an einer oder mehreren psychischen Erkrankungen. Mit der Einführung den vom Bundesrat angeordneten Massnahmen hat sich die Gesellschaft von vielen Freiheiten verabschiedet. Die Abwechslung im Alltag bleibt zunehmend aus, was dafür sorgt, dass bei vielen psychisch Erkrankten die eigenen Sorgen und Ängste noch mehr ins Zentrum ihres Seins gerückt werden.
Klinik vorübergehend geschlossen
Viele Kliniken für psychisch Erkrankte rüsten sich zurzeit auf und schaffen Platz für Covid-19 Notfälle. Dies bedeutet, dass Kliniken Patientinnen und Patienten, welche einen weniger akuten Zustand aufweisen, nach Hause schicken. Dort fehle es momentan noch an Betreuung, sagt Roger Staub, Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana. Zudem ist es aktuell aufgrund der Hygienemassnahmen nicht möglich, alle Therapieformen – seien sie ambulant oder stationär – durchzuführen. «Gerade so im Bereich der Bewegungstherapie ist halt doch einiges verkleinert worden. […] Es ist kein Vergleich zum normalen Programm», beschreibt Christian Hackamp, stellvertretender Teamleiter Pflege Psychosomatik und Psychiatrie der Klinik Gais, die aktuelle Situation.
Als Übergangslösung für die fehlende physische Pflege würde sich die Betreuung per Video-Chat oder mit anderen digitalen Möglichkeiten anbieten. «Ich bin sehr gespannt, wie der Austausch funktioniert. Ich glaube dennoch, dass das Momentum, in welchem man sich in einem Raum zusammenfindet und einander zuhört – also wirklich in einem physischen Raum – dass das eine enorme Qualität hat, welche man nicht mit einem Webinar toppen kann […] längerfristig brauchen wir unbedingt einen physischen Raum,[…] wo es auch Platz hat für Unausgesprochenes.», ist sich der Pflege- und Gesundheitswissenschaftler Dr. rer. medic. Gianni Zuaboni sicher.
Digitaler Raum für dringliche Fragen
Wenn wie durch die aktuelle Situation keine Möglichkeit besteht für ein physisches Treffen von Fachpersonen und Erkrankten, sieht sich die Stiftung Pro Mente Sana als Vermittler. Die Stiftung setzt sich für psychisch beeinträchtigte Menschen in der Schweiz ein. Sie hat gemeinsam mit der Berner Fachhochschule das Portal «inCLOUsiv» ins Leben gerufen: Eine Plattform für den Austausch über die psychische Gesundheit. Sie will vor allem Dialoge ermöglichen, Vertrauen schaffen und dringlichen Fragen einen Raum bieten. «Wie soll ich diese Zeit überstehen?», ist eine davon. Sie wurde im Forum gestellt. «Ich war bis letzten Donnerstag in einer Traumaklinik, diese wurde nun geschlossen, und ich bin zu Hause. Ich halte es aber fast nicht aus, habe starke Flashbacks, Angstattacken und Depressionen.» Andere Plattformbenutzer melden sich zeitnah, berichten von ähnlichen Zuständen und geben Ratschläge. Ein Mitglied berichtet aus seiner Erfahrung und, dass der erste Schritt auf dem Weg zur Besserung «Hoffnung zu haben» sei. «Hoffnung ist so eine Sache. Manchmal habe ich sie, manchmal nicht mehr. Vor allem bei Erschöpfung klappt es nicht so.», ist das letzte was man vom Fragesteller liest. Betreffend der digitalisierten Betreuung ist sich der Gesundheitswissenschaftler Zuaboni sicher, «..dass es eine Hürde darstellt, […] dass wir einfach einen Teil von Menschen nicht erreichen, für welche die technischen Voraussetzungen zu anspruchsvoll sind.»
Die Depression – eine Hirnerkrankung
Entgegen der Annahme vieler, dass Depression eine «Krankheit der Seele ist», klärt Professor Florian Holsboer, einer der bedeutendsten Depressionsforscher weltweit, auf: «Die Depression ist eine organische Erkrankung wie andere Erkrankungen auch. Die verursachenden Mechanismen aber sind so winzig, dass man sie nicht sieht. Sie finden in den weitverzweigten Nervenkreisläufen des Hirns statt.» Es existieren unterschiedliche Krankheitsbilder jeder psychischen Krankheit, so auch jeder Depression.
Grundsätzlich kann gesagt werden, dass sich bei einer Depression der Gefühlszustand eines Betroffenen weit über eine Traurigkeit hinausstreckt. Viel mehr wird sie von Betroffenen als eine Bedeutungslosigkeit beschrieben. Hobbys, Arbeit und manchmal sogar Familie und Freunde werden für Leidtragende unbedeutend. Die Gemütslage wird von Betroffenen als Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Apathie geschildert.
Suizidgedanken sind ein sehr häufiges Symptom bei einer Depression. Bei chronischen Depressionen und ganz besonders bei Suizidgefahr ist eine teils stationäre Therapie immens wichtig. Psychische Krankheiten seien laut Roger Staub, Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana, immer noch ein Tabuthema in unserer Gesellschaft. Das sei durch die Corona-Krise nicht anders geworden. Es gilt auch hier, rechtzeitig Hilfe zu bieten, damit in unserer Gesellschaft nicht noch mehr Schäden entstehen. Fachleute befürchten einen Anstieg der Suizide durch die fehlenden Hilfeleistungen für die psychisch Erkrankten.
Laras Mobiltelefon blinkt auf. Die Schlummerzeit hat sie komplett ausgeschöpft. Sie weiss, was ihrer Krankheit entgegenwirken würde; ein strukturierter Tagesablauf. Wie aber kann sie all die Zeitfenster füllen, jetzt wo sie nicht mehr arbeiten gehen kann? Lara quält sich aus dem Bett, rafft sich auf. Wenig später brummt bereits die Kaffeemaschine. Den Kaffee vor sich in den Händen haltend sitzt sie am Küchentisch, starrt in die Leere. «Was jetzt?», fragt sie sich, «was jetzt?».